Zur Wahl gehen reicht nicht – Lorenz-von-Stein-Preis für herausragende Doktorarbeit zu politischer Repräsentation

Die Gewählten setzen nicht das um, was man sich gewünscht hätte – dieses Gefühl dürfte manchem Wähler bekannt sein. Warum Wahlen allein manchmal nicht genügen, um Volkes Willen umzusetzen, ist eine der Fragen, die der Politikwissenschaftler Dr. Lukas Stötzer bearbeitet. In seiner Dissertation „Spatial model of voting: Citizens with inconsistent, persuadable and endogenous policy preferences“ knöpft er sich ein klassisches Modell politischer Repräsentation vor und entwickelt eine Alternative dazu. Die Lorenz-von-Stein-Gesellschaft e.V. zeichnet den 30-jährigen Lukas Stötzer heute für die beste sozialwissenschaftliche Dissertation des vergangenen Jahres an der Universität Mannheim aus. Die Fördergesellschaft des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) prämiert seit 1999 jährlich eine Doktorarbeit aus den Fächern Politikwissenschaft, Sozialpsychologie oder Soziologie. Der Lorenz-von-Stein-Preis ist mit 1.000 Euro dotiert.

Der "ideale Wähler" existiert nur in der Theorie

In seiner mit der Bestnote "summa cum laude" bewerteten Arbeit befasst sich Stötzer mit politischer Repräsentation – einer Kernaufgabe der Demokratie. Wählerinnen und Wähler entscheiden sich für die Kandidaten beziehungsweise Parteien, die am besten ihren politischen Vorstellungen entsprechen. So wird, einer in der Politikwissenschaft verbreiteten Vorstellung zufolge, in einer Demokratie der politische Wille der Wählerinnen und Wähler umgesetzt. Was einfach klingt, ist in Wahrheit sehr problematisch, erklärt der Preisträger: „Diese Vorstellung politischer Repräsentation geht von einem perfekt informierten und sich absolut rational verhaltenden Wähler aus, dessen Überzeugungen in sich stimmig und unveränderlich sind. Dabei ist mittlerweile ziemlich unstrittig, dass dieser idealtypische Wähler in der Praxis kaum existiert. Die Theorie greift daher zu kurz.“ Doch funktioniert Demokratie überhaupt, wenn Bürger keine hinreichend präzisen Vorstellungen haben, um den für sie optimalen Kandidaten oder die passende Partei zu wählen? Wie kann Wahlverhalten interpretiert werden, wenn der Wähler nicht so handelt, wie es das gängige wissenschaftliche Modell voraussetzt?

Ob links oder rechts ist für den Wähler nicht immer entscheidend

Lukas Stötzer geht in seiner Dissertation von Wählerinnen und Wählern aus, die sich nicht so verhalten, wie es das klassische Modell erwartet. Er berücksichtigt zum Beispiel teils widersprüchliche oder inkonsequente Politikpräferenzen und bezieht mit ein, dass viele Menschen einfach nicht die Zeit oder die Möglichkeit haben, sich permanent und umfassend zu informieren. Es gelingt ihm zu zeigen, dass das Wahlverhalten und damit auch die letztlich umgesetzte Politik oftmals anders ausfallen, als es den tatsächlichen Präferenzen der Wähler entsprochen hätte. Dafür nutzt der Autor eine Vielzahl innovativer Forschungsdesigns und statistischer Verfahren. Unter anderem verwendet er Daten der US-amerikanischen Wahlstudie ANES, führt aber auch Online-Experimente durch.

Ein zentrales Ergebnis seiner Analysen lautet: Menschen mit teils widersprüchlichen Politikpräferenzen legen bei ihrer Wahlentscheidung nicht so großen Wert darauf, ob ein Kandidat im klassischen Sinne eher links oder rechts steht. Auch zeigt Stötzer, dass politische Argumente einen direkten Einfluss auf die Wahlentscheidung haben können. Wähler lassen sich demnach überzeugen. Moderne Wahlkämpfe konzentrieren sich dagegen oftmals stark auf die Mobilisierung der bereits überzeugten Stammwählerschaft. Diese Stammwähler wiederum neigen laut Stötzer dazu, den Argumenten der eigenen Partei oder ihres Lieblingskandidaten zu folgen, selbst wenn sich deren Positionen im Laufe des Wahlkampfs ändern. Hierin sieht der Politikwissenschaftler Spielraum für Parteien und Kandidaten, auch anfänglich als „unpopulär“ eingeschätzte Positionen erfolgreich zu vertreten. Weiter empfiehlt Stötzer: „Wähler sollten sich noch genauer damit befassen, welche Wahlentscheidung am ehesten zu den von ihnen gewünschten Folgen führt. Im Idealfall sollten sie sich laufend mit politischen Argumenten befassen und die verschiedenen Optionen abwägen.“ Um den Wählerwillen abzubilden reicht es laut Stötzer also nicht, regelmäßig demokratische Wahlen abzuhalten. Vielmehr müsse der Bürger permanent in der Lage sein, sich mit Hilfe unabhängiger und verlässlicher Quellen politische Informationen zu beschaffen.

„Die von Lukas Stötzer gewonnenen Erkenntnisse wären auf Basis der bisherigen Vorstellung von politischer Repräsentation nicht möglich gewesen“, unterstreicht Professor Thomas Gschwend, der nicht nur Vorsitzender der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft, sondern auch Doktorvater von Lukas Stötzer ist. „Dass ich als Vorsitzender der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft den Dissertationspreis diesmal für eine von mir selbst betreute Doktorarbeit verleihen darf, ist ein Novum. An der Auswahl der auszuzeichnenden Arbeit durch den Vorstand habe ich daher diesmal aus gutem Grund nicht teilgenommen. Umso mehr freue ich mich für Lukas Stötzer, denn er ist ein würdiger Preisträger“, so Gschwend. Stötzers Arbeit sei methodisch hervorragend und rege dazu an, neu über politische Repräsentation nachzudenken. Auch könne sie Ansporn sein für weitere innovative Forschung.

Über den Preisträger

Lukas Stötzer studierte an den Universitäten Konstanz und Essex und arbeitete anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Quantitative Methoden in den Sozialwissenschaften der Universität Mannheim. Hier besuchte er auch die Graduate School of Economic and Social Sciences (GESS) und wurde , nach einem Forschungsaufenthalt an der New York University 2013, im Jahr 2015 in Mannheim promoviert. Derzeit ist Stötzer Gast am weltweit renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Der Universität Mannheim ist er als External Fellow des MZES im Forschungsprojekt „Koalitionspolitik vor der Wahl“ unter Leitung von Professor Gschwend weiterhin verbunden. In diesem Projekt erforschen die Politikwissenschaftler, unter welchen Bedingungen Parteien vor der Wahl klare Koalitionsaussagen treffen oder vermeiden.

Der Lorenz-von-Stein-Preis wird im Rahmen der Absolventenfeier der Master-, Diplom-, Magister- und Lehramtsabsolvent/innen sowie der Doktorand/innen der Fakultät für Sozialwissenschaften am heutigen Donnerstag, 30. Juni 2016, verliehen.

(siehe PDF-Datei unten für vollen Text der Pressemitteilung vom 30. Juni 2016)