Erwartungsbildung und Wahlentscheidung

Fragestellung/Ziel: 

Ausgangspunkt des Projekts war die Frage, inwieweit es in Verhältniswahlsystemen zu strategischem Wählerverhalten kommt: der Wahlentscheidung bewusst nicht für die am meisten präferierte Partei, um mit der Entscheidung für eine weniger präferierte Partei das Endergebnis besser im Sinne der eigenen Interessen beeinflussen zu können. Ein Hauptmotiv dafür ist die Vermeidung einer Stimmvergeudung zugunsten einer Partei oder eines Kandidaten, dem aller Voraussicht nach der Einzug ins Parlament nicht gelingen wird (Thema 1). Diese Fragestellung wurde dann erweitert um das Thema (2) der Erwartungsbildung bezüglich des Wahlausgangs und der daran anschließenden Regierungsbildung und des Koalitionswählens (Thema 3). Diese Fragestellungen wurden sowohl mit Hilfe von Experimenten als auch mit Wahlumfragen untersucht. (1a) Umfragen in Deutschland zu den Bundestagswahlen 1998 und 2002 (Herrmann/Pappi 2008, Herrmann 2008a): Wir analysierten die volle Bandbreite der potentiell strategischen Situationen für die Erststimmenwahl in den Wahlkreisen. Wenn Wähler die Chance haben, das Kandidatenergebnis im Wahlkreis zu beeinflussen, kommt es zu strategischem Wählen. Allerdings ist die Häufigkeit mit etwa vier Prozent gering. Um diese relativ geringe Häufigkeit zu erklären, griffen wir auf neuere Theorien über strategisches Wählen zurück, nach denen Unsicherheit über den wahren Rückhalt der Kandidaten im Wahlkreis strategisches Wählen reduziert, so dass Kandidaten ohne Aussicht auf den Wahlkreissieg doch Stimmen bekommen. In Übereinstimmung mit einem neuen Modell von Myatt und Fisher konnten wir für die Erststimmenwahl bei deutschen Bundestagswahlen zum ersten Mal nachweisen, dass strategische Wähler unter hoher Unsicherheit handeln. Eine wichtige Implikation dieses Befunds betrifft das in der Literatur für diesen Fall als gültig angenommene Duverger-Gesetz, wonach sich im Gleichgewicht auf Dauer nur zwei Parteien auf Wahlkreisebene behaupten werden. (1b) Erstes Experiment (Meffert/Gschwend 2007b): Hier wurde ein innovativer Untersuchungsplan verwendet, der ein Laborexperiment mit Anleihen bei zeitgleich in der Region ablaufenden Wahlkämpfen verband, indem Wahlprognosen und Koalitionssignale in einem realistischen Umfeld manipuliert werden konnten. Die Ergebnisse zeigten, dass Wähler die Stimmvergeudung vermeiden, wenn der Einzug ihrer bevorzugten Partei ins Parlament unwahrscheinlich ist. Ein weiteres Ergebnis war der erstaunlich große Anreiz, der von Koalitionssignalen auf strategisches Wählen ausgeht, mit dem man die bevorzugte Koalition an die Regierung bringen will. (2) Vorwahlumfragen in Belgien und Österreich (Huber et al. 2008, Meffert et al. under review): Während in die belgische Vorwahlumfrage nur einige wenige Fragen zur Erwartungsbildung aufgenommen wurden, war dies in der österreichischen Vorwahlumfrage ein Schwerpunktthema . Wir identifizierten verschiedene Einflüsse auf die Erwartungsbildung jenseits eines reinen Wunschdenkens, wie politisches Wissen und Interesse, rationale Überlegungen – so waren die Erwartungen von Befragten umso realitätsnäher, je geringer der Skalometerabstand zwischen erst- und zweitpräferierter Partei war – und regionaler Kontext - die Erwartungen in Regionen, deren Wahlergebnis wenig vom nationalen Durchschnitt abwich, waren realitätsnäher. Die empirische Evidenz bezüglich Koalitionserwartungen legt den Schluss nahe, dass die Wähler, wenigstens im Aggregat, eine ziemlich durchdachte Vorstellung über die Wahrscheinlichkeit verschiedener Koalitionen haben und dass sie dabei unterscheiden zwischen den erwartbaren Mehrheiten und den Einigungswahrscheinlichkeiten zwischen den Parteien. Gleichzeitig spielt natürlich Wunschdenken eine gewisse Rolle, vor allem im Hinblick auf spezielle Koalitionen, an denen die präferierte Partei oder eine total abgelehnte Partei beteiligt ist. (3a) Zweites Experiment (Meffert/Gschwend 2008 under review): Strategisches Wählen in Mehrparteiensystemen mit Koalitionsregierungen ist keine einfache Entscheidung zwischen erst- und zweitpräferierter Partei, sondern kann die Wahl irgendeiner Partei nahelegen oder sogar strategisches Nichtwählen. Die Identifikation der optimalen Wahlentscheidung wird schnell zu einer Herausforderung. Für ein wirtschaftliches Experiment, bei dem die Versuchspersonen Geld gewinnen konnten und bei dem es um die anonymen Parteien A, B, C und D ging, wurde ein Modell für ein Spiel strategischen Wählens entwickelt, in dem die vier Parteien um die Stimmen von 15 Wählern in einem zweidimensionalen Policyraum kämpfen. Wahlprognosen und Koalitionssignale für jeweils 25 Wahlen wurden manipuliert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Wähler häufig strategische Entscheidungen treffen, dass sie sich aber auch auf einfache Entscheidungsheuristiken verlassen und sehr anfällig für die Koalitionssignale der Parteien sind. (3b) Österreichische Vorwahlstudie (Herrmann 2008b, Meffert/Gschwend 2007a, Pappi 2008): Die Umfragedaten zeigen, dass Koalitionswählen nicht in jedem Fall eine Aufgabe unüberwindlicher Komplexität ist, sondern innerhalb des realistisch Möglichen liegt: Wähler haben ziemlich durchdachte Vorstellungen über die Wahrscheinlichkeit verschiedener Koalitionen und etwa ein Drittel der Befragten stufte eine Koalition auf dem Sympathieskalometer höher ein als die am meisten präferierte Partei. Außerdem unterscheiden Wähler zwischen Erwartungen über die Parteistärken im Parlament und den Einigungswahrscheinlichkeiten bei Koalitionsverhandlungen. Diese Ergebnisse ermutigten uns, einen einfachen räumlichen Kalkül für Koalitionswählen zu postulieren: linke und rechte Wähler, die einen Sieg ihrer präferierten linken oder rechten Koalition für ganz unwahrscheinlich halten, wählen strategisch ein Partei der Mitte. Umgekehrt werden Wähler, die eine Chance für eine künftige Regierung ihrer bevorzugten linken oder rechten Koalition sehen, strategisch den jeweiligen extremeren Koalitionspartner wählen. Testet man diese Voraussagen gegen das Standardmodell des Nähewählens, kann der postulierte Kalkül des strategischen Koalitionswählens für Österreich bestätigt werden.

Fact sheet

Finanzierung: 
DFG
Laufzeit: 
2005 bis 2008
Status: 
beendet
Datenart: 
Umfragedaten, Aggregatdaten
Geographischer Raum: 
Europa

Veröffentlichungen

Bücher

Behnke, Joachim, Thomas Gschwend, Delia Schindler und Kai-Uwe Schnapp (Hrsg.) (2006): Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren. Baden-Baden: Nomos. mehr
Gschwend, Thomas (2004): Strategic Voting in Mixed-Electoral Systems. Reutlingen: SFG-Servicecenter Fachverlag. [Statistik und Wissenschaft; 2] mehr