Regierungsbildung als optimale Kombination von Ämter- und Policy-Motivation der Parteien
Die neueren Koalitionstheorien gehen sowohl von ämter- als auch policy-motivierten Parteien aus. Gleichgewichtslösungen des Verhandlungsproblems werden überwiegend nicht-kooperativ unter Annahme eines festen Verhandlungsablaufs, beginnend mit der Auswahl eines Formateurs, durch „backward induction“ abgeleitet. Empirische Anwendungen sind selten. Hauptziel des Projekts war es, die Wirkung der Doppelmotivation für die Koalitionsbildung in den deutschen Ländern zu untersuchen und Alternativen zu den für Deutschland ungeeigneten Formateurmodellen zu finden. Dazu wurde eine neue Datenbasis über deutsche Landtagsparteien aufgebaut, um die Regierungsbildung mit den Ämter- und Policy-Motivationen der deutschen Parteien zu erklären. Die Texte der Landtagswahlprogramme von 1975 bis 2010 wurden mit Hilfe einer Verschlüsselung der Kapitelüberschriften in die jeweils behandelten Politikfelder aufgeteilt. Die Länge der einem Politikfeld gewidmeten Texte wird als Interesse der Partei für dieses Politikfeld interpretiert und die politikfeldspezifischen Positionen der Partei wurden mit dem Programm Wordfish identifiziert. Die Regierungsbildung in den deutschen Ländern eignet sich gut zum Test von Koalitionstheorien. Der Test entspricht einem „most similar cases design“ ; man kann sich auf die interessierenden Verhandlungsgegenstände der Ministeriumsaufteilung und der Policy-Kompromisse konzentrieren und braucht wegen der institutionellen und Parteisystem-Ähnlichkeiten keine großen Störeinflüsse von dieser Seite in Kauf zu nehmen. Die Verhandlungssituation lässt sich als „freestyle bargaining“ bezeichnen; Formateurtheorien sind hier als Modellierungsalternative unrealistisch. Ein Ergebnis des Projekts ist, dass die größte Landtagspartei, wenn sie dominant ist, d.h. rein rechnerisch mehr minimale Gewinnkoalitionen bilden kann als andere Parteien, den Ministerpräsidenten stellt und dass sich die größte nicht-dominante Partei oder die zweitgrößte Partei abhängig davon durchsetzen, ob sie die kleinere Distanz zum Schwerpunkt des mehrdimensionalen Policy-Raums haben (Pappi/Seher). Shikano und Linhart benutzen ein Lösungskonzept der kooperativen Spieltheorie (nach Sened), um die Stärke der Ämter- und Policy-Motivationen der einzelnen Parteien zu schätzen. Für die tatsächliche Koalitionsbildung ergab sich eine starke Policy-Motivation der CDU und eine starke Ämter-Motivation der SPD. Mittelwerte der durchschnittlichen Policy-Distanzen zwischen Parteidyaden belegen, dass CDU und FDP koalieren, wenn ihre Distanz klein ist, und nicht koalieren, wenn sie groß ist. Im linken Lager sind die Distanzen im Allgemeinen größer und variieren nicht mit der Koalitionsabsicht. Die Vermeidung einer großen Koalition trotz oft geringer Policy-Distanz zwischen CDU und SPD ist Ausdruck einer starken Ämtermotivation.