Obwohl europäische Gesundheitssysteme mittlerweile einen fast universellen Deckungsgrad im Zugang zu Gesundheitsleistungen erreicht haben, berichten empirische Studien, dass immer noch erhebliche Ungleichheiten in der Nutzung von Gesundheitsleistungen zwischen sozialen Schichten bestehen. Ein wesentlicher Grund ist, dass der sozioökonomische Status wichtige Ressourcen beinhaltet, die bei der Navigation in einem komplexen Gesundheitssystem eingesetzt werden können. Gerade Patienten mit höherer Bildung sind daher besser in der Lage verfügbare Gesundheitsleistungen effektiv in Anspruch zu nehmen. Die Bedeutung der Bildung für die Leistungsinanspruchnahme, so die These dieses Beitrags, hängt jedoch von der Stärke der Primärversorgung ab. In Systemen mit starker Primärversorgung haben Patienten mit dem Hausarzt einen zentralen Anlaufspunkt, der den gesamten Behandlungsprozess koordiniert und die zentralen Managementaufgaben übernimmt. In Ländern mit schwacher Primärversorgung hingegen, wird die Koordination und Integration der Behandlung stärker vom Patienten selbst übernommen. Durch dieses formale Integrationsdefizit erhöht sich die Bedeutung von Bildung für die Inanspruchnahme und erzeugt dadurch höhere Ungleichheit im Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die Stärke der Primärversorgung wird anhand einer Vielzahl von Indikatoren erfasst: die Einschreibung von Patienten auf der Liste eines Arztes mit Primärversorgungsfunktion, die Verfügbarkeit von Allgemeinärzten, überweisungsbasierter Zugang zum Spezialisten und ein formaler Informationsaustausch zwischen Allgemeinärzten und anderen Gesundheitsdienstleistern. Auf der Basis von Mehrebenenmodellen werden diese institutionellen Indikatoren mit Umfragedaten der zweiten Welle des Survey of Health, Ageing and Retirement verknüpft. Anhand von Cross-Level Interaktionen wird untersucht, ob die Stärke der Primärversorgung den Effekt von Bildung auf die Inanspruchnahme von Fachärzten und Krankenhäusern moderiert. Die Ergebnisse zeigen, dass je stärker die Primärversorgung ist, desto geringer sind Ungleichheiten in der Nutzung zwischen unterschiedlichen Bildungsgruppen. Damit geben die Ergebnisse einen Hinweis darauf, dass über die Stärkung der Primärversorgung z.B. durch die Erhöhung der Versorgungsdichte oder die Einrichtung eines Hausarztsystems bestehende Ungleichheiten in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen verringert werden können.