Christian Stecker
Namentliche Abstimmungen als Währung individueller Verantwortlichkeit? Eine vergleichende Analyse der deutschen Länderparlamente

Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 2011: 5, Heft 2, S. 303-328
ISSN: 1865-2646 (print); 1865-2654 (online)

Als „Währung individueller Verantwortlichkeit“ stehen namentliche Abstimmungen im Spannungsverhältnis zwischen kollektiver und individualisierter Repräsentation. Die vorliegende Studie beleuchtet, wie Parteien im Wettbewerb um Wählerstimmen diese Währung gezielt in Umlauf bringen. Indem sie namentliche Abstimmungen beantragen, lenken Fraktionen – meist die Opposition – den Blick der Öffentlichkeit auf individuelles Abstimmungsverhalten, um ihre eigenen Kandidaten als Wahlkreisdiener zu empfehlen oder deren Konkurrenten dem Druck gegenläufiger Wahlkreisinteressen auszusetzen. Fraktionen greifen zu diesem Mittel umso häufiger, je stärker das Wahlsystem kandidatenzentriert ist. Eine Analyse von 115 Wahlperioden aller deutschen Länderparlamente seit 1967 zeigt, dass wahlsystemische Anreize und die Häufigkeit namentlicher Abstimmungen folgerichtig miteinander korreliert sind und namentliche Abstimmungen zu etwa 80 % von der Opposition nachgefragt werden. Auch qualitative Evidenz aus Interviews und Plenarprotokollen spricht für die Bedeutung von namentlichen Abstimmungen als Währung individueller Verantwortlichkeit.

Roll call votes maintain a position between collective and individual representation since they are used as ‘currency of individual accountability’. The study at hand examines the manner in which parties use this currency strategically when competing for votes. By requesting roll call votes, (usually the opposing) party groups draw the public’s attention to individual voting behavior in order to promote their own candidates as representatives of the constituencies’ interests or to submit competing candidates to the pressure of opposing interests of the constituencies. The greater the emphasis of the electoral system on individual candidates, the more frequent party groups use these means. According to an analysis covering 115 legislative periods of the German state parliaments since 1967, electoral systems’ incentives are correlated with the frequency of roll call votes. In addition, 80% of the roll call votes are requested by the opposition. Qualitative evidence based on interviews and plenary protocols underlines the importance of roll call votes as a ‘currency of individual accountability’.