Johannes Berger
"Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen". Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage

Zeitschrift für Soziologie, 2004: 33, Heft 5, S. 354-374

Obwohl soziale Ungleichheit ein zentrales Forschungsgebiet der Soziologie darstellt, sieht es nicht danach aus, als verfüge das Fach über eine schlüssige und allseits anerkannte Theorie, die erklärt, warum es Ungleichheit gibt. Insbesondere fehlt es an einer Theorie der Einkommensungleichheit in Marktwirtschaften. Rousseaus "Discours sur l´inegalité" steht am Anfang einer kontroversen Diskussion. Auch wenn Rousseaus Abhandlung sich über weite Strecken in Rhetorik erschöpft, enthält sie zwei wichtige Fingerzeige für die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit. Sie entsteht zum einen durch Abweichungen von einem ursprünglichen Zustand der Gleichheit; diese Abweichungen beruhen zum anderen auf "Landnahme", d.h. der Monopolisierung eines nicht beliebig vermehrbaren Produktionsfaktors. Diese beiden Ideen aufgreifend möchte der Aufsatz zeigen, daß Entlohnungsunterschiede in Marktwirtschaften sich ausschließlich aus Wettbewerbsbeschränkungen ergeben. Im Konkurrenzgleichgewicht gibt es keine Entlohnungs-, sondern allenfalls Ausstattungsunterschiede. Die vollständige Konkurrenz würde differentielle Faktorentlohnungen eliminieren und sicherstellen, daß die Erträge strikt proportional zu den Investitionen sind. Wettbewerbsbeschränkungen hingegen bilden die Grundlage für die Zahlung ökonomischer Renten an den von der Marktschließung begünstigten Personenkreis. Solche Renteneinkünfte, d.h. Zahlungen über den Betrag hinaus, der erforderlich ist, die Abwanderung von Produktionsfaktoren in eine andere Verwendung zu verhindern, bedingen eine strukturelle, also nicht lediglich auf individuellen Qualifikationsunterschieden fußende Einkommensungleichheit.

Although social inequality is a central area of research in sociology it does not look as if the discipline is able to provide a conclusive and generally accepted answer to the question about the sources of inequality. In particular, a theory of income inequality in market societies is not available. Rousseau's "Discours sur l´inegalité" inaugurated a long-standing controversial debate. Although it amounts, for long stretches, to nothing more than rhetoric, it, nevertheless, contains two important suggestions for answering the question: inequality arises by deviating from an original state of equality; these deviations originate in enclosures, i.e. the appropriation of resources whose supply is limited. In taking up these ideas this paper sets out to demonstrate that differences in remuneration in market societies result exclusively from processes of monopolistic closure. In competitive equilibrium there are no differences in compensation but only differences in endowment. Perfect competition eliminates the differential remuneration of factors of production thus guaranteeing that returns are strictly proportional to investments. Restraints of trade, however, are the social basis for the payment of economic returns to groups advantaged by the closure of markets. Economic returns beyond the amount necessary to keep a factor of production in its present condition of employment, represent a structural inequality of income not reducible to individual skill differences.