Franz Urban Pappi, Michael Herrmann
Strategisches Erststimmenwählen bei deutschen Bundestagswahlen

Cover wp-92_tit_bild.jpg
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung: Arbeitspapiere; 92
Mannheim
,
MZES
,
2006
ISSN: 1437-8574

Vermeidung der Stimmvergeudung an aussichtslose Kandidaten ist die bekannteste und am besten untersuchte Form strategischen Wählens. Dieses Motiv findet sich in reinster Form in Wahlkreisen, in denen ein einziges Mandat an den Sieger der relativen Mehrheitswahl zu vergeben ist. Das entsprechende Äquivalent für deutsche Bundestagswahlen ist die sogenannte Erststimme für einen der Wahlkreiskandidaten. In diesem Beitrag wird eine Erststimme als potentiell strategisch angenommen, wenn der Befragte berichtet, er habe für einen Kandidaten oder eine Kandidatin der von ihm zweitpräferierten statt der erstpräferierten Partei gestimmt. Wir zeigen mit geeigneten Daten für die Bundestagswahlen 1998 und 2002 in West- und Ostdeutschland, dass dieses Verhalten erklärt werden kann mit dem von McKelvey und Ordeshook formulierten Wählerkalkül: Je niedriger die erwartete Nutzendifferenz zwischen erst- und zweitpräferierter bzw. zwischen erst- und drittpräferierter Partei und je höher die erwartete Nutzendifferenz zwischen zweit- und drittpräferierter Partei, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit strategischen Wählens. Die Erwartungen beziehen sich auf den Einfluss der eigenen Stimme auf das Endergebnis im Wahlkreis, die wir mit den Pattwahrscheinlichkeiten zwischen dem Gewinner und erstem und zweitem Verlierer im Wahlkreis messen. Erest wenn die Wahl der Zweitpräferenz positiv auf entsprechende knappe Wahlkreisergebnisse reagiert, wird aus dem potentiell strategischen oder „unehrlichen“ (unsincere) Verhalten tatsächlich strategisches Wahlverhalten.

The avoidance of a wasted vote is the best known and researched form of a strategic vote, applicable first of all in single-member single ballot systems. The equivalent in German Bundestag elections is the first or candidate vote for one of the constituency candidates. In this paper, this vote is assumed to be potentially strategic if a respondent reports to have voted for the candidate of his second instead of his first preferred party. We show with appropriate data for the Bundestag elections 1998 and 2002 in West and East Germany that this behavior can be explained by the McKelvey/Ordeshook calculus of voting: The lower the expected utility difference between first and second and first and third preferred party and the higher the expected utility difference between second and third preferred party, the higher the probability of a strategic vote. Expectations refer to the impact of one’s own vote on the constituency result which is measured by the margin of victory. The smaller this margin, the larger the impact of one’s vote on the final outcome. Potentially strategic or unsincere voting becomes strategic voting only by reacting positively to the margin of victory in the constituencies.