Deutsche Freunde, deutsche Identität? Lorenz-von-Stein-Preis für Doktorarbeit über die nationale Identifikation von Einwandererkindern

Je stärker sich die Nachfahren von Einwanderern mit dem Aufnahmeland identifizieren, desto mehr einheimische Freunde haben sie – und umgekehrt. Allerdings weiß die Wissenschaft bis heute nicht genau, wie dieser Zusammenhang zwischen emotionaler und sozialer Integration entsteht. Die klassische Integrationsforschung spricht einheimischen Freunden eine wichtige Rolle für die Entstehung von Identifikation mit dem Aufnahmeland zu, welche wiederum als letzte Stufe des Integrationsprozesses begriffen wird. Doch stärken Freunde mit deutschen Wurzeln tatsächlich die Identifikation von Einwandererkindern mit Deutschland? Oder ist es umgekehrt, und Einwanderkinder, die sich mit Deutschland identifizieren, schließen eher Freundschaft mit Deutschen?

Der Mannheimer Soziologe Dr. Lars Leszczensky hat die komplexen wechselseitigen Mechanismen der Entstehung von Freundschaften und nationaler Identifikation genau untersucht. Seine mit Bestnote bewertete Dissertation widerspricht der klassischen Integrationsforschung, indem sie zeigt, dass die soziale Integration in Form der Einbindung in Freundschaftsnetzwerke keine starken Auswirkungen auf die emotionale Integration in Form der Identifikation mit dem Aufnahmeland hat. Die Lorenz-von-Stein-Gesellschaft e.V. zeichnet den 32-jährigen Leszczensky heute für die beste sozialwissenschaftliche Dissertation des Jahres 2016 an der Universität Mannheim aus. Die Fördergesellschaft des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) prämiert seit 1999 jährlich eine Doktorarbeit aus den Fächern Politikwissenschaft, Sozialpsychologie oder Soziologie. Der Lorenz-von-Stein-Preis ist mit 1.000 Euro dotiert.

Freundschaften sind für die nationale Identifikation nicht entscheidend

In seiner Doktorarbeit warnt Leszczensky davor, Freunden vorschnell einen Einfluss auf die nationale Identifikation von Einwandererkindern zuzuschreiben, wie das in vielen wissenschaftlichen Studien der Fall sei. Tatsächlich kommt Leszczensky in verschiedenen Längsschnittuntersuchungen zu einem anderen Befund: „Meine Untersuchungen stimmen darin überein, dass die nationale Identifikation von Einwandererkindern nicht wesentlich von ihren Freunden beeinflusst wird – seien diese nun deutsch oder nicht“, erläutert Leszczensky.

Emotionale Aspekte der Integration sind wesentlicher als gedacht

Umgekehrt konnte Leszczensky zeigen, dass eine starke Identifikation mit Deutschland Freundschaften mit Einheimischen offenbar durchaus begünstigt: „Meine Studien deuten darauf hin, dass Einwandererkinder, die sich stark mit Deutschland identifizieren, häufiger Freundschaften mit einheimischen Kindern schließen. Von solchen Freundschaftsbeziehungen wissen wir wiederum, dass sie den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen begünstigen können. Durch ihren Einfluss auf soziale Integration kann die emotionale Integration in Form der Identifikation mit dem Aufnahmeland indirekt also auch für die strukturelle Integration von Bedeutung sein“, fasst Leszczensky zusammen.

Integrationsprozess muss teilweise neu justiert werden

Den Vorstand der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft hat der Soziologe mit seiner Arbeit „Tell Me Who Your Friends Are? Disentangling the Interplay of Young Immigrants’ Host Country Identification and Their Friendships with Natives“ mehr als überzeugt. „Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir wer du bist – so einfach wie es das Sprichwort nahe legt, ist es in Wirklichkeit eben nicht“, erklärt Professor Thomas Gschwend, Vorsitzender der Lorenz-von-Stein-Gesellschaft. Lars Leszczensky habe eindrucksvoll gezeigt, dass ein zentraler Problembereich der aktuellen empirischen Migrationsforschung neu justiert werden müsse. So sei künftig die emotionale Integration stärker als Bedingungsfaktor der sozialen und somit indirekt auch der strukturellen Integration zu betrachten. Insgesamt sei die von dem Mannheimer Soziologen Professor Frank Kalter als Doktorvater betreute Arbeit Leszczenskys beispielhaft für die Mannheimer Sozialwissenschaften. Unter mehreren preiswürdigen Arbeiten habe sie ganz besonders überzeugt, betont Gschwend.

Für seine Untersuchungen hat der Preisträger unter anderem Daten aus verschiedenen Forschungsprojekten des MZES verwendet, wie „Children of Immigrants Longitudinal Survey in Four European Countries“ (CILS4EU) oder „Junge Migranten im deutschen und israelischen Bildungssystem“. Für das Projekt „Freundschaft und Identität in der Schule“ sammelte er zudem gemeinsam mit Frank Kalter und Sebastian Pink längsschnittliche Netzwerkdaten. Mittlerweile ist Lars Leszczensky am MZES als Postdoc Fellow beschäftigt und entwickelt seine Forschungsagenda eigenständig weiter.

Der Lorenz-von-Stein-Preis wird im Rahmen der Absolventenfeier der Master-, Diplom-, Magister- und Lehramtsabsolvent/innen sowie der Doktorand/innen der Fakultät für Sozialwissenschaften am heutigen Donnerstag, 22. Juni 2017, verliehen.

Weitere Informationen und Kontakt:

Leszczensky, Lars (2016): Tell Me Who Your Friends Are? Disentangling the Interplay of Young Immigrants’ Host Country Identification and Their Friendships with Natives. Mannheim: University of Mannheim. Download: https://ub-madoc.bib.uni-mannheim.de/40937/

Prof. Thomas Gschwend, PhD
Vorsitzender d. Lorenz-von-Stein-Gesellschaft e.V.
Universität Mannheim
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Telefon: +49-621-181-2087
Telefax: +49-621-181-2845
gschwend [at] uni-mannheim.de
www.mzes.uni-mannheim.de/lvs

Dr. Lars Leszczensky
MZES Postdoc Fellow
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621-181-2832
Lars.Leszczensky [at] mzes.uni-mannheim.de
http://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/profiles/lars-leszczensky

Nikolaus Hollermeier
Direktorat / Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621-181-2839
Telefax: +49-621-181-2866
nikolaus.hollermeier [at] mzes.uni-mannheim.de
www.mzes.uni-mannheim.de

(Pressemitteilung Universität Mannheim, 22.06.2017)