Thomas König, Lars Mäder
Das Regieren jenseits des Nationalstaates und der Mythos einer 80-Prozent-Europäisierung in Deutschland

Politische Vierteljahresschrift, 2008: 49, issue 3, pp. 438-463

Das Regieren jenseits des Nationalstaates wird oftmals mit Blick auf die Europäisierung problematisiert, die bisweilen für 80 Prozent der deutschen Gesetzgebungstätigkeit verantwortlich gemacht wird. Dieser Beitrag untersucht aus einer quantitativen Perspektive, inwieweit die deutsche Gesetzgebung der vergangenen 30 Jahre auf europäische Impulse zurückzuführen ist. Im Unterschied zu anderen Studien wird eine Qualifizierung der Gesetzgebungstätigkeit nach inhaltlichem Bedeutungsgrad und monetären Implikationen vorgenommen und untersucht, ob und in welchem Ausmaß angegebene europäische Impulse tatsächlich mit EU Gesetzgebungsaktivitäten zusammenhängen. Die Ergebnisse zeigen, dass der Einfluss der EU auf die deutsche Gesetzgebung bisher deutlich überschätzt wurde. Nach unseren Erkenntnissen wurde in den vergangenen 30 Jahren ein 80-prozentiger Anteil bei großzügiger Zählweise nur zu einem Zeitpunkt und in einem Politikbereich erreicht. Ansonsten fällt dieser Anteil vor allem bei „wichtigen“ Gesetzen weitaus geringer aus. Ferner lässt sich nur bei der Hälfte aller Angaben zu einem europäischen Richtlinienimpuls überhaupt ein eindeutiger europäischer Ursprung nachweisen.

Governance beyond the nation state is intensively discussed with regard to the degree of Europeanization of the member states. For some scholars, the Europeanization degree of German legislation has already reached a share of 80 percent. This article applies a quantitative perspective and investigates, whether and to what extent German legislation has been stimulated by European impulses over the past 30 years. In contrast to previous studies, the analysis distinguishes between regular and important legislation and examines whether and to what extent European impulses are induced by EU legislation. The results reveal that previous estimates have dramatically overstated the influence of Europeanization on German legislation. According to our findings, a share of 80 percent has only once occurred in a single policy domain. Usually, this share is significantly lower, in particular for important legislation. Moreover, it is only possible to identify the reasons for half of the Europeanization impulses in the respective EU legislative database.