Die Europäische Kommission: Kontrollierter Agent oder unkontrollierte Bürokratie
Während der letzten 50 Jahre wurde die Europäische Kommission üblicherweise als „Motor der Integration“ der Europäischen Union (EU) dargestellt, Ziele und Interessen verfolgend, die sich grundsätzlich von denen der Mitgliedstaaten unterschieden. Gleichzeitig ist die theoretische Diskussion zur und das empirische Wissen über die Europäische Kommission sehr begrenzt. Dieses Forschungsprojekt leistet einen Beitrag zur Behebung dieser Forschungslücke. Die Kommission wird hier als kollektiver Akteur konzeptualisiert. In einem ersten Schritt wird die Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission theoretisch erfasst. Die Regierungen nominieren jeweils mindestens einen Kommissar und ernennen gemeinsam die Kommission. Der empirische Test der aus der Prinzipal-Agenten Theorie hergeleiteten Hypothesen zu den relevanten Eigenschaften aller 215 zwischen 1958 und 2006 nominierten Kommissare zeigt, dass die Regierungen (zunehmend) versuchen Kommissionsentscheidungen zu beeinflussen, indem sie zuverlässige Kandidaten mit ähnlichen Politikpräferenzen als Kommissare nominieren. In einem weiteren Schritt wurden fünf theoretische Entscheidungsszenarien formuliert, die Entscheidungsprozesse in der Kommission erfassen. Die Szenarien machen unterschiedliche Aussagen zur relativen Machtverteilung in der exekutiven Politik der Kommission und den Kontrollmöglichkeiten der Kommissare untereinander. Die Szenarien wurden empirisch anhand der prozeduralen Eigenschaften aller Gesetzesvorlagen getestet, die von den Kommissaren der Prodi-Kommission verabschiedet wurden. Drei Fallstudien ergänzen die quantitative Analyse. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kommissare sich gegenseitig bei der Formulierung und Verabschiedung vor allem derjenigen Gesetzesvorlagen kontrollieren, die den Regierungen hohe (materielle und politische) Kosten aufzuerlegen drohen. Die theoretischen und empirischen Analysen dieses Forschungsprojektes machen deutlich, dass die Darstellung der Kommission als unkontrollierte Bürokratie, die permanent gegen die Interessen der Mitgliedstaaten handelt, wenig plausibel ist. Die Kommissare haben starke politische Bande zu den mitgliedstaatlichen Regierungen. Die Dynamik interner Entscheidungsprozesse verhindert allerdings, dass die Interessen jeder Regierung bei der Verabschiedung aller Gesetzesvorlagen durch die Kommissare Berücksichtigung finden, weshalb eine intergouvernementale Charakterisierung der Kommission zu kurz greift.