Nähe- und Richtungswahl in unterschiedlichen institutionellen Kontexten
Beim sachfragenorientierten Wählen (policy voting) kann man sich entweder für die Partei entscheiden, die dem eigenen Idealpunkt im Politikraum am nächsten ist, oder man wählt die Partei, die den status quo am meisten in die bevorzugte Richtung zu verschieben verspricht. Mischmodelle berücksichtigen beide Kriterien. Henning, Hinich und Shikano (2007) haben ein vereinigtes Modell ergebnisorientierten Wählens entwickelt, bei dem das Mischverhältnis von Nähe- und Richtungsmodell (der Mischparameter ?) aus einem formalen Modell parlamentarischer Abstimmungen abgeleitet wird. Der ?-Parameter ist ein Maß des Einflusses einer einzelnen Wählerstimme auf das Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses (policy outcome). Je größer dieser Einfluss, desto höher ist der ?-Parameter, d.h. desto stärker nimmt das Gewicht des Nähekriteriums gegenüber dem Richtungskriterium in der Wahlentscheidung zu. Ziel des Projekts war die Ableitung von Hypothesen aus diesem Modell für unterschiedliche institutionelle Kontexte und ihre empirische Überprüfung mit Hilfe von Sekundäranalysen nationaler Wahlstudien. Ergebnisse: Generell gilt, dass der erwartbare Einfluss einer einzelnen Stimme auf die Politikergebnisse in der nächsten Legislaturperiode umso größer ist, je größer die Machtkonzentration im Parlament ist. In Parteiensystemen mit zwei disziplinierten Parteien unter Mehrheitswahl und einem nationalen Einkammersystem müsste deshalb stärker nach Nähegesichtspunkten gewählt werden als in Konsensdemokratien mit Mehrparteiensystemen und zwei Kammern. Ein Vergleich der ?-Parameter für Belgien als dem konsensdemokratischen Pol über Deutschland, Kanada und Neuseeland vor der Wahlrechtsreform 1996 als dem mehrheitsdemokratischen Pol bestätigte die Hypothese (Henning et al. 2007:34-35). Die ?-Parameter wurden auch für einzelne Parteien geschätzt in der Erwartung, dass große Parteien mehr als kleine Parteien nach dem Nähe-Kriterium gewählt werden. Diese Hypothese bestätigte sich im internationalen Vergleich nicht. Dafür konnte Herrmann (2008) für die Bundestagswahl 2005 nachweisen, dass Wähler sich bei der Präferenzbildung von Nähegesichtspunkten leiten lassen, bei der Wahlentscheidung aber auch Richtungsgesichtspunkte ins Spiel kommen, indem man extremere Parteien wählt als dem eigenen Standpunkt angemessen wäre. Das kam im Bezug auf die Links-Rechts-Dimension 2005 der Linken auf Kosten der SPD und der FDP auf Kosten der CDU/CSU zugute.