Kaum eine andere Entwicklung spiegelt den Aspekt des „Wandels“ im deutschen Wählerverhalten so gut wider wie der stetig ansteigende Anteil „später“ Wahlentscheidungen. Der Anteil der selbst-deklarierten „Wahlkampfentscheider“ lag bei der Bundestagswahl 1965 noch bei 15 Prozent, bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 hingegen bei über 50 Prozent. Unter der Voraussetzung, dass die Messung des Entscheidungszeitpunkts valide ist, hat diese Entwicklung enorme Implikationen für das Wirkpotential von Wahlkämpfen: Denn nur jene Wähler können potentiell durch Wahlkampfkommunikation beeinflusst worden sein, welche sich nicht bereits vor Beginn des Wahlkampfes auf eine Partei festgelegt haben.
Doch wie ist die Validität der Messmethode einzuschätzen? Das Instrument, welches konventionell zur Erhebung des Entscheidungszeitpunkts eingesetzt wird, basiert auf dem Prinzip der introspektiven Rückerinnerung: Wähler sollen nach der Wahl einschätzen, wann sie ihre endgültige Entscheidung getroffen haben. Das mit dieser Methode einhergehende Problem ist bereits aus der Wechselwahlforschung hinlänglich bekannt, denn es bestehen Zweifel an der Fähigkeit von Befragten, sich an rückliegende Ereignisse korrekt zu erinnern. Genährt wird der Zweifel durch drei US-Studien, in denen gezeigt wurde, dass sich die durch die Rückerinnerungsmethode gemessenen Zeitpunkte mit einem alternativen (und objektiveren) Verfahren, der Panelmethode, nicht validieren lassen (vgl. Plumb 1986; Chaffee/Rimal 1996; Kogen/Gottfried im Erscheinen). Zwei kanadische Untersuchungen kommen hingegen zu dem Schluss, dass die Rückerinnerungs- und die Panelmethode weitestgehend vergleichbare Messergebnisse liefern (Fournier et al. 2001; Fournier et al. 2004), während für Deutschland noch keine Untersuchungen vorliegen.
In dem vorgeschlagenen Paper werden zwei Zielsetzungen verfolgt: Erstens wird eine Validierungsanalyse durchgeführt, in deren Rahmen Messwerte der beiden Methoden miteinander verglichen werden. Zu diesem Zweck stehen sieben Wahlkampfpanel aus den Bundestagswahljahren 1972, 1976, 1983, 1987, 1990, 2005 und 2009 zur Verfügung, die eine Operationalisierung des Zeitpunkts der Wahlentscheidung auf der Grundlage beider Methoden ermöglichen. Zweitens wird untersucht, ob sich die vermutete Zunahme „später“ Wahlentscheidungen auch anhand von Paneldaten nachvollziehen lässt.
Aus der Datenanalyse resultieren überraschende Befunde: Erstens ist zu konstatieren, dass die Rückerinnerungsmethode nur im Kontext der Bundestagswahlen 2005 und 2009 Ergebnisse mit akzeptabler Validität hervorbrachte, während ein erheblicher Anteil der Befragten in älteren Wahlstudien objektiv falsche Angaben machte. Zweitens lässt sich der starke Anstieg des „Wahlkampfentscheider“-Anteils anhand der Panelmethode nicht bestätigen: Wenn überhaupt von einem Anstieg die Rede sein kann, so lässt sich dieser höchstens als „gering“ bezeichnen. Das Paper schließt mit einer Diskussion der methodischen und inhaltlichen Implikationen.