Mannheimer Politikwissenschaftler: Große Koalition in Niedersachsen am wahrscheinlichsten – außer die FDP bewegt sich
Wer regiert künftig in Niedersachsen? Ministerpräsident Stephan Weil von der SPD hat zwar die Wahl gewonnen, aber keine Mehrheit für sein bisheriges Bündnis mit den Grünen. Laut dem Mannheimer Politikwissenschaftler Marc Debus kommt nun wohl eine Große Koalition zustande: Er hat für das Bündnis aus SPD und CDU eine Wahrscheinlichkeit von 72,5 Prozent errechnet. Eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP kommt dagegen nur auf 19,6 Prozent Wahrscheinlichkeit. „Dies gilt aber nur, wenn die FDP bei ihrem Nein zur möglichen Ampelkoalition bleibt“, betont der Politikwissenschaftler. Ansonsten wäre seinem Modell zufolge ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP mit 50,6 Prozent das wahrscheinlichste Verhandlungsergebnis, gefolgt von der Großen Koalition mit 36,2 Prozent. Jamaika hätte dann nur eine Chance von 9,8 Prozent.
Stephan Weil sollte sich mit den Verhandlungen beeilen
Wenn sich die FDP also nicht umorientiert, dann stehen die Zeichen in Hannover auf Rot-Schwarz. Allerdings könnte ein anderer Faktor die Verhandlungen noch entscheidend beeinflussen, gibt Debus zu bedenken: „Falls auf Bundesebene eine Jamaika-Koalition zustande kommt, während in Niedersachsen noch verhandelt wird, dann würde dies die Chancen für Jamaika in Hannover auf 45,3 Prozent erhöhen.“ Nach den Berechnungen des Wissenschaftlers wäre selbst dann eine Koalition aus SPD und CDU mit 48,6 Prozent das wahrscheinlichste Ergebnis. Dennoch: „Für die SPD wäre es gut, relativ schnell zu einem Verhandlungserfolg zu kommen. Wartet Stephan Weil zu lange, dann könnten ihm die Verhandlungen auf Bundesebene in die Quere kommen“, sagt Debus. Hintergrund dieser Annahme ist, dass die Spitzen der Bundesparteien von CDU, Grünen und FDP ihre Landesverbände drängen könnten, auch in Hannover eine Jamaika-Koalition zu bilden. Dies brächte einer möglichen schwarz-gelb-grünen Koalition in Berlin sechs Stimmen im Bundesrat, die bei zustimmungspflichtigen Gesetzen hilfreich wären.
Wie funktioniert das Koalitions-Modell von Marc Debus?
Doch wie gelangt der Wissenschaftler zu den oben genannten Wahrscheinlichkeiten? Mit Hilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse der Wahlprogramme hat er zunächst die Positionen der Parteien auf den zentralen Politikfeldern ermittelt: Dies ist einerseits die Wirtschafts- und Sozialpolitik und andererseits die Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik. „Diese Felder sind sehr prägend für den deutschen Parteienwettbewerb und eigenen sich daher hervorragend, um mögliche Regierungsbündnisse auszuloten“, erklärt Debus. Je geringer die programmatische Distanz zwischen den Parteien ist, desto wahrscheinlicher sollte sich eine Koalition aus diesen Parteien bilden. Aus den weiteren Theorien zur Regierungsbildung und ihrer empirischen Überprüfung ist zudem bekannt, welche anderen Faktoren die Regierungsbildung in Deutschland maßgeblich beeinflussen. Auch diese fließen in das Modell mit ein: „Dazu zählen etwa der Wunsch der Parteien, in einer Koalition möglichst viele Ämter zu besetzen, die vor der Wahl getätigten Koalitionsaussagen, die Agendasetzungsmöglichkeit der stärksten Parlamentsfraktion und der Amtsinhaberbonus der amtierenden Regierungskoalition“, erläutert der Politikwissenschaftler.
Die Koalitionsaussagen seien in Niedersachsen diesmal relativ zahlreich und möglicherweise folgenreich für die Regierungsbildung. So hat die FDP hat eine „Ampel“ vor und auch nach der Wahl ausgeschlossen. Da der Wähler ein Abweichen von Koalitionsaussagen in der Regel bestraft – das klassische Beispiel ist die rot-rot-grüne Koalition in Hessen 2008 trotz vorheriger Ablehnung seitens der SPD und deren daraufhin schlechtes Abschneiden bei den vorgezogenen Landtagswahlen 2009 – sinkt die Wahrscheinlichkeit auf Bildung einer Ampel unter den gegebenen Umständen auf nahe Null.
„Ein zusätzliches Problem für die Bildung einer Ampel-, aber auch einer Jamaika-Koalition ist, dass sich die niedersächsischen Grünen in gesellschaftspolitischen Fragen seit 2013 nach links bewegt haben.“ Das mache die Bildung eines Dreierbündnisses noch schwieriger, fasst Debus zusammen.
Modell umfasst alle Bundes- und Landtagswahlen seit 1990
Für seine Berechnungen fasst Debus die oben genannten Faktoren zusammen und testet die bestehenden Theorien anhand aller Regierungsbildungsprozesse auf Bundes- und Landesebene seit Januar 1990. „Daraus kann man nicht nur die Gewichte der einzelnen Faktoren bestimmen, die die Koalitionsbildung beeinflussen, sondern auch Wahrscheinlichkeiten für theoretisch mögliche Koalitionen berechnen“, erklärt Debus. In 91 aller 113 berücksichtigten Bundes- und Landtagswahlen habe sich sein Schätzmodell bewährt: Die Koalition mit der höchsten Wahrscheinlichkeit bildete in rund 80 Prozent der Fälle tatsächlich auch das nächste Kabinett.
Bundesebene: Jamaika ist am wahrscheinlichsten
Für die Bundesebene hatte Debus jüngst ein Jamaika-Bündnis mit 52 Prozent als wahrscheinlichste Koalition berechnet. Falls sich die SPD aber umorientiert und eine neue Große Koalition in Betracht zieht, so wäre diese laut Debus mit 42 Prozent auch gut möglich. „Es gibt allerdings auch Kontextfaktoren, die sich mit meiner Methode nicht abbilden lassen“, erklärt Debus. Da seien beispielsweise die Koalitionspräferenzen der Wähler, die von den Parteien bei der Regierungsbildung durchaus berücksichtigt würden: „Um diesen Faktor miteinbeziehen zu können, bräuchten wir noch mehr Daten.“
Weitere Informationen und Kontakt:
Prof. Dr. Marc Debus
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621-181-2082
E-Mail: marc.debus [at] uni-mannheim.de
http://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/profiles/marc-debus
Nikolaus Hollermeier
Direktorat / Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
Universität Mannheim
Telefon: +49-621-181-2839
E-Mail: nikolaus.hollermeier [at] mzes.uni-mannheim.de
www.mzes.uni-mannheim.de
(Pressemitteilung Universität Mannheim, 16.10.2017)