Heiko Giebler, Andreas M. Wüst
Individuelle Wahlkämpfe bei der Europawahl 2009: Länderübergreifende und ebenenspezifische Befunde

Pp. 121-152 in: Jens Tenscher (Ed.): Superwahljahr 2009. 2011. Wiesbaden: VS Verlag

Individuelle Wahlkämpfe stellen einen elementaren Bestandteil des Wahlprozesses dar. Ein besseres Verständnis dieser Kampagnen kann helfen, unser Bild von Wahlkämpfen, maßgeblich geprägt durch Analysen des Parteienwahlkampfs, der Aktivitäten von Spitzenkandidatinnen und der Medienberichterstattung, zu komplettieren. Auf der Basis neuer Kandidatenbefragungen will dieser Beitrag zwei Leitfragen beantworten: Erstens, welche Faktoren determinieren die Ausgestaltung individueller Wahlkämpfe bei Europawahlen? Und zweitens, handelt es sich bei Europawahlkampagnen tatsächlich um Wahlkämpfe zweiter Ordnung? Die Differenzierung der individuellen Wahlkampagnen erfolgte sowohl in Bezug auf ihre Intensität als auch auf die Diversität der verwendeten Mittel. In einem europaweiten Vergleich konnte nicht nur gezeigt werden, dass große Unterschiede existieren, sondern auch dass Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen – Mikro- (Kandidatinnen), Meso- (Parteien) und Makroebene (Länder) – diese erklären können. Insbesondere die Wahlchance, aber auch die Existenz von Präferenzstimmen oder die inhaltliche Position und Größe einer Partei, erwiesen sich als statistisch signifikante Prädiktoren für Unterschiede im individuellen Wahlkampf. Die Annahme, dass es sich bei den individuellen Wahlkämpfen zur Europawahl um Nebenwahlkämpfe handelt, konnte – zumindest für das Jahr 2009 in Deutschland – nur zum Teil bestätigt werden. Mit Blick auf die Intensität der Wahlkämpfe zeigte sich, dass die Europakandidatinnen aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei zwar weniger Geld für den Wahlkampf ausgaben als die Bundestagskandidatinnen, doch hinsichtlich des Zeitaufwands war das Bild nicht eindeutig. Und bei der Wahl der Mittel konnte zwar eine etwas häufigere Nutzung klassischer Mittel im Rahmen der individuellen Wahlkämpfe bei der Bundestagswahl festgestellt werden, doch bei den postmodernen Mitteln war das Ergebnis wiederum uneinheitlich. Auf beiden Wahlebenen gab es allerdings einen großen Unterschied zwischen aussichtsreichen und aussichtslosen Kandidatinnen: Mit der Wahlchance stieg die Kampagnenintensität und die Nutzung verschiedener Wahlkampfmittel erheblich.