Nadine Reibling
Ursache oder Therapie: Welche Rolle spielt die medizinische Versorgung bei der Erklärung sozial bedingter Gesundheitsungleichheit?

Das Gesundheitswesen, 2010: 72, issue 08/09, pp. V56
ISSN: 0941-3790

Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass der soziale Status einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hat. Untersuchungen, die den Einfluss dieser Ungleichheit im Versorgungssystem auf soziale Unterschiede im Gesundheitszustand überprüfen, fehlen jedoch weitgehend. Ziel dieses Beitrags ist es eine Verknüpfung der Versorgungsepidemiologie und der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung herzustellen. Die zentrale Frage lautet: Welche Rolle spielt die medizinische Versorgung bei der Erklärung sozial bedingter Gesundheitsungleichheit? Es sind unterschiedliche kausale Zusammenhänge denkbar. Vertreter des fundamental-cause Ansatzes argumentieren, dass Personen mit einem hohen sozioökonomischen Status Ressourcen (z.B. Einkommen, Problemlösungskompetenz) besitzen, die sie zur Verbesserung ihrer Gesundheit einsetzen, indem sie z.B. mehr und qualitativ hochwertigere Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Diese bessere Versorgung der höhergestellten Gruppen könnte so zu einer Vergrößerung der sozialen Unterschiede im Gesundheitszustand beitragen. Institutionelle Ansätze hingegen betonen die Organisation des Versorgungssystems. Bei einem gleichen und freien Zugang zum Gesundheitssystem sollten niedrige Statusgruppen aufgrund ihres größeren Bedarfs mehr Leistungen in Anspruch nehmen. Das Gesundheitssystem könnte so zu einer Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit durch die medizinische Versorgung beitragen. Die beiden konkurrierenden Hypothesen werden anhand des Survey of Health, Ageing, and Retirement (SHARE) für Europa und der Health Retirement Study (HRS) für die USA gegeneinander getestet. Anhand von Strukturgleichungsmodellen wird untersucht, ob die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (präventive, kurative, Medikamente) und die Qualität der Versorgungsanbieter Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Bildung bzw. Einkommen und dem Gesundheitszustand aufweisen. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass das medizinische Versorgungssystem eine Vergrößerung gesundheitlicher Ungleichheit bewirkt. Auch wenn die Effekte der Inanspruchnahme und Versorgungsqualität deutlich geringer sind als z.B. des individuellen Gesundheitsverhaltens, ist dies ein Hinweis darauf, dass die bestehenden Ungleichheiten in der Versorgung zur Manifestierung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen.