Der Weg zu mehr Frauen im Parlament und wieder zurück?

Am 15. Juli spricht das Thüringer Verfassungsgericht ein Grundsatzurteil zum Paritätsgesetz in Thüringen. Das Gesetz wurde im Juli 2019 von der damals mit absoluter Mehrheit regierenden Koalition aus LINKEN, SPD und Grünen gegen die Stimmen von Union und AfD beschlossen. Demnach müssen Parteien ihre Landeslisten paritätisch und alternierend mit Frauen und Männern besetzen. Die AfD-Fraktion zog dagegen vor das Landesverfassungsgericht und rügte einen aus ihrer Sicht “schweren Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien”.

Paritätsgesetze sollen aus Sicht ihrer Befürworter endlich erreichen, was durch Sonntagsreden und laue Selbstverpflichtungen bisher nur schleppend vorankam: den Anteil der Frauen in den Parlamenten erhöhen und somit auch die Repräsentation ihrer Interessen verbessern. Tatsächlich zeigt der Blick nach Thüringen, dass in puncto Frauenrepräsentation bereits einiges erreicht wurde, der Weg zur Parität (ohne Gesetz) aber keine Einbahnstraße ist.

Entwicklung des Frauenanteils im Thüringer Landtag (1990-2019)

Bei den ersten Wahlen nach der Wiedervereinigung 1990 gelangten nur 12 Frauen in den Thüringer Landtag, was einem historisch niedrigen Anteil von 14 Prozent entsprach. Die Anzugdichte auf den damaligen Fraktionsgruppenfotos erreichte teils bedrohliche Spitzenwerte: Zwei Frauen saßen mit 44 Männern in den Reihen der damals allein regierenden CDU von Ministerpräsident Bernhard Vogel! In den folgenden Wahlen konnten Frauen deutlich mehr Mandate erringen. 2014 stieg ihr Anteil sogar auf 42 Prozent und auch in der CDU waren nun immerhin 10 von 24 Abgeordneten weiblich. Allerdings stagniert die Entwicklung aus Sicht der Skeptikerinnen und 2019 wurde das Rad sogar zurückgedreht: Eine starke, männderdominierte AfD-Fraktion und eine geschwächte CDU-Fraktion mit überwiegend männlichen Direktmandataren drückte den Frauenanteil bei den Wahlen im Oktober 2019 auf 31 Prozent.

Männerdominanz bei den Direktmandaten lässt das Paritätsgesetz ins Leere laufen

Könnte das Paritätsgesetz diese Entwicklung korrigieren und den Thüringer Landtag wieder weiblicher machen und am Ende sogar eine hälftige Repräsentanz von Frauen und Männern sicherstellen? Diese Frage beleuchten wir, indem wir für alle sieben Landtagswahlen seit 1990 die Mandate in einer Simulation erneut verteilen - diesmal allerdings unter den Bedingungen des Paritätsgesetzes. Dabei lassen wir zunächst alle erfolgreichen Direktkandidaten in den Landtag einziehen, da diese vom Paritätsgesetz unberührt bleiben. Die Listenplätze verteilen wir neu, und zwar paritätisch und abwechselnd an Frauen und Männer. Das Gesetz überlässt es den Parteien, ob die Liste von einer Frau oder einem Mann angeführt wird. In unserer Simulation setzen wir jeweils eine Frau auf Listenplatz 1, was uns angesichts der jahrhundertelangen politischen Benachteiligung von Frauen vertretbar erscheint. Wir können freilich nicht genauer berücksichtigen, ob sich die Parteien bei tatsächlicher Geltung eines Paritätsgesetzes anders verhalten hätten (z. B. bei der Nominierung von Wahlkreiskandidaten). Auch müssen wir unterstellen, dass alle Parteien genügend Bewerberinnen für eine paritätische Liste aufweisen. Diese Annahme ist z. B. bei der AfD verletzt. Bei den Wahlen im Oktober 2019 standen nur fünf Frauen auf ihrer 35-köpfigen Landesliste (auf den Plätzen 4, 10, 19, 33 und 35).

Wir wollen hier nur die Wirkung des Gesetzes beleuchten. Die wichtigen historischen, normativen, verfassungsrechtlichen und empirischen Aspekte zum Thema Parität können z. B. bei Gabriele Abels/Anne Cress, Benjamin Höhne und Sandra Brunsbach vertieft werden.

Die Abbildung zeigt, inwiefern das Paritätsgesetz den Frauenanteil im Thüringer Landtag verbessert hätte. Der untere Punkt repräsentiert dabei jeweils den realen Ausgangswert einer Fraktion bzw. des gesamten Parlaments. Ein Pfeil zeigt an, ob über das Paritätsgesetz - hätte es denn bereits gegolten - zusätzliche Frauen (auf Kosten der Männer) in den Thüringer Landtag eingezogen wären. Fehlt der Pfeil, dann hätte auch das Paritätsgesetz nichts weiter ausrichten können oder hälftige Repräsentation wurde bereits auf anderem (freiwilligen) Wege erreicht.

Der Frauenanteil im Thüringer Landtag unter Réalité und Parité (1990-2019)

Es zeigt sich, dass sich die Wirkung eines Paritätsgesetzes deutlich zwischen den Fraktionen und über Zeit hinweg unterscheidet. 1990 hätte Parité den Anteil der Frauen noch mehr als verdoppelt, von 13 Prozent auf 29 Prozent (der graue Punkt und Pfeil repräsentiert den Parlamentsdurchschnitt). Damals wiesen selbst Grüne, LINKE und SPD eine Männerdominanz auf, die ihnen 30 Jahre später recht peinlich sein würde. Die potentielle Wirkung von Parité lässt in der Folgezeit deutlich nach. Dies liegt in erster Linie daran, dass Grüne, LINKE und SPD über freiwillige Parität eine zunehmend ausgewogene Geschlechterverteilung erreichen, die eine weitere gesetzliche Korrektur überflüssig macht.

Frappierend ist die Paritätsgesetzresistenz der Thüringer CDU. Frauen sind bei ihr immer in der Minderheit und stellen aktuell nur 9,5 Prozent der Fraktion. Allein das Paritätsgesetz vermag daran nichts zu ändern. Das liegt daran, dass sich die CDU-Fraktion über sämtliche Wahlen fast ausschließlich aus (vorwiegend männlichen) Direktmandataren rekrutiert und nur selten Abgeordnete über die Liste in den Landtag einziehen. Eine paritätische Liste - wie sie sich die CDU für die Wahlen 2019 tatsächlich gegeben hat - bleibt damit ohne Wirkung. Interessanterweise würde die Brandenburger CDU-Fraktion unter dem dortigen Paritätsgesetz doppelt so viele Frauen gewinnen, während die dortige SPD ihre über Direktmandate errungene Männerdominanz (72 Prozent) bewahren dürfte.

Dies weist auf das grundlegende Problem des Paritätsgesetzes in Thüringen (und Brandenburg) hin: Geschlechterverzerrte Repräsentation, die über die Direktmandate vermittelt wird, kann es nicht korrigieren. Anders ausgedrückt: Männerdominanz ist weiterhin erlaubt, solange es nur über die Direktmandate bewerkstelligt wird. Die krasse Unterrepräsentation von Frauen im Thüringer Landtag nach den Wahlen 2019 von 31 Prozent hätte das Paritätsgesetz nur um magere 5 Prozentpunkte anheben können.

Von paritätischen Listen zu kompensatorischen Listen?

Auch wenn das Landesverfassungsgericht das Thüringer Paritätsgesetz bestätigen sollte, ist der Weg zu einer gleichmäßigeren Repräsentation der Geschlechter also noch weit. Die Direktmandate stellen sich als eine hartnäckige Männerbastion dar. Gleichzeitig scheint eine Ausweitung der Paritätsgesetze auf die Direktmandate aktuell weder mehrheitsfähig noch verfassungsrechtlich durchsetzbar.

So sind vor allem die Parteien weiterhin in der Verantwortung, das Ideal der Gleichstellung durch innerparteiliche Prozesse und Regelungen zu verwirklichen. Eine Möglichkeit bestünde darin, für aussichtsreiche Wahlkreise gezielt mehr weibliche Kandidatinnen zu rekrutieren. Eine weitere Möglichkeit sehen wir in kompensatorischen Listen. Damit ist gemeint, dass die Parteien Listen- und Direktmandate im Hinblick auf Gleichstellung als Paket begreifen und eine Männerdominanz in den Wahlkreisen durch die Liste kompensieren könnten. Ein fiktives Beispiel: Ziehen für eine Fraktion 15 männliche Direktmandatare in den Landtag ein, dann sollten die verbliebenen 10 Listenmandate nicht paritätisch vergeben werden. Sie könnten ausschließlich an Frauen gehen, um für die Männerdominanz aus den Wahlkreisen zu kompensieren. Eine solche flexible Kompensation könnte über Selbstverpflichtungen und selektive Mandatsverzichte von Listenkandidaten erreicht werden. Freilich kann damit eine ausschließlich aus Direktmandataren bestehende Fraktion (wie aktuell die Thüringer CDU) nicht weiter verweiblicht werden. Gerade die zu unterschiedlichen Teilen aus Direkt- und Listenmandataren bestehenden größeren Bundestagsfraktionen bietet allerdings großes Potential für Parität durch kompensatorische Listen. Mit kompensatorischen Listen könnten auch Parteien wie Grüne, LINKE und SPD ihr Bekenntnis zu (freiwilliger) Gleichstellung weiter bekräftigen. Ob darüber dann (annähernde) Parität zum Repräsentationsstandard erwächst und es keiner weiteren gesetzlichen Regelungen bedarf, bleibt allerdings eine offene Frage.