Walter Müller
Sozialstruktur und Wahlverhalten. Eine Widerrede gegen die Individualisierungsthese

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997: 49, issue 4, pp. 747-760

Der Beitrag diskutiert den Versuch von Schnell und Kohler (1995), mit dem Nachweis einer abnehmenden Erklärungskraft sozio-demographischer Variablen bei der Vorhersage der Wahlabsicht die Individualisierungsthese empirisch zu belegen. Es wird argumentiert und gezeigt, daß die entsprechenden Befunde von Schnell und Kohler zu einem erheblichen Teil Artefakte des gewählten Vorgehens sind. Die benutzte Operationalisierung der Klassenvariablen, die im Zeitverlauf den stärksten Rückgang im Erklärungsbeitrag aufweist, präjudiziert teilweise das Ergebnis, weil sie Differenzierungen unberücksichtigt läßt, die vor allem in neuerer Zeit wahlentscheidend geworden sind. Die von Schnell und Kohler gewählten statistischen Maße sind ungeeignet für den Nachweis der Abnahme des prägenden Einflusses sozialer Zugehörigkeiten für das Handeln der Akteure, und sie überschätzen diese Entwicklung. Nach einer Reanalyse der Daten sind die Veränderungen der Einflußstärken der einzelnen Variablen deutlich schwächer als von Schnell und Kohler angenommen, und sie verlaufen nicht einheitlich in abnehmender Richtung. Deshalb sind die Befunde auch kein Beleg für den von Schnell und Kohler theoretisch postulierten Mechanismus, daß eine - mit der Modernisierung zunehmende - Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Kategorien - generell zur Abnahme der Einflußstärke sozio-demographischer Variablen führe.

The article discusses the attempt by Schnell and Kohler (published 1995 in this journal) to test empirically the individualization thesis by showing that the power of socio-demographic variables to predict voting preferences for political parties has declined. It is argued and shown that the results by Schnell and Kohler are to a considerable extent artifacts of the procedures used. The operationalization for social class used by Schnell and Kohler partly predetermines the findings, because it does not account for class differences which became decisive for voting patterns in more recent years. The statistical measures used by Schnell and Kohler are inadequate to prove the declining effects of group membership for individual action, and they overestimate respective developments. A re-analysis of the data shows that change in the effects of several variables is less marked than found by Schnell and Kohler and does not only occur in the direction of decline. Therefore, the findings of Schnell and Kohler are unable to prove that decline occurred via theoretically-postulated mechanism, namely that membership in an increasing number of social circles - assumed to increase with modernization - in general leads to declining effects of socio-demographic variables.