Medienvermittelte Auseinandersetzung im internationalen und intermedialen Vergleich
Das Projekt zielte darauf ab, die gesellschaftlichen und medialen Bedingungskonstellationen medienvermittelter Auseinandersetzungen zu entschlüsseln. Dazu wurden mediale Debatten zum Themenbereich Religion/Säkularismus in sechs Ländern (USA, Australien, Deutschland, Schweiz, Türkei und Libanon) miteinander verglichen. Untersuchungsgegenstand waren sowohl professionell-journalistische Beiträge zum Thema (Tageszeitungen, Nachrichtenwebsites und politische Blogs) als auch bürgergenerierte Debatten (Online-Kommentare auf den Web- und Facebookseiten etablierter Nachrichtenanbieter sowie in parteilichen Facebookgruppen und auf Twitter).
Journalistische Beiträge wurden mit Hilfe standardisierter manueller Inhaltsanalysen untersucht (N = ca. 1.700 Artikel, aus einer eigens dafür geschaffenen Datenbank mit rund 2 Mio Artikeln). Bürgergenerierte Inhalte wurden dagegen (teil-)automatisiert ausgewertet (N = ca. 1,3 Millionen Nutzer-Kommentare). Die Qualität öffentlicher Auseinandersetzungen wurde dabei auf vier Dimensionen erhoben:
- Inklusivität der Akteure und Ideen, die in einer Debatte zu Wort kommen
- Zivilität des Ausdrucks
- Begründung von Positionen und argumentative Komplexität
- Diskursintegration durch gegenseitige Bezugnahmen der Akteure
Die Analysen haben gezeigt, dass journalistische Diskurse in Mehrheitsdemokratien (USA, Australien) inklusiver und begründungsintensiver sind als in Konsensdemokratien (D, CH), allerdings auch weniger gemeinwohlorientiert in der Art der Begründung. Entgegen landläufigen Vermutungen ist der journalistische Diskurs in den Mehrheitsdemokratien zudem durchschnittlich ziviler. Dagegen sind bürgergenerierte Debatten im Internet und den sozialen Netzwerkmedien in Mehrheitsdemokratien unziviler und weisen eine geringere argumentative Komplexität auf. Diese zunächst widersprüchlich erscheinenden Ergebnisse sprechen dafür, dass verschiedene Demokratietypen unterschiedliche Debattenprofile begünstigen. Demokratische Basisfunktionen wie breite Inklusivität, das Äußern von Begründungen und Zivilität im Journalismus sind in Mehrheitsdemokratien besser ausgeprägt, während weitergehende deliberative Qualitäten wie gemeinwohlorientierte Begründungen sowie Zivilität und Argumentationskomplexität bürgergenerierter Kommunikation in Konsensdemokratien besser gedeihen.
Das Projekt hat zudem belegt, dass Online-Nutzerkommentare argumentativ komplexer aber zugleich unziviler sind, wenn sie in Foren gepostet werden, die für plurale, themengetriebene Diskussionen genutzt werden (Kommentarsektionen von Nachrichtenmedien) und weniger für präferenzgetriebene Diskussionen unter Gleichgesinnten (parteiliche Facebookgruppen und Twitter). Das Aufeinandertreffen gegenläufiger Meinungen in themengetriebenen, pluralen Online-Arenen fordert die Beteiligten also zu mehr Begründungsaufwand, aber auch zu mehr verbaler Konfrontation heraus.
Zusätzlich zu diesen (und weiteren) inhaltlichen Erkenntnissen wurden im Projektkontext zwei neuartige methodische Verfahren entwickelt: zum einen ein halbautomatisierter, computergestützter Ansatz zur Klassifikation von Texten aus zuvor wenig bekannten Länderkontexten – das sogenannte Expert-Informed Topic Modelling (EITM); zum anderen ein automatisiertes Messinstrument zur Klassifikation großer Social-Media-Datensätze, welches theoriegestützte Wörterbücher mit überwachten maschinellen Lernalgorithmen kombiniert, um Online-Nutzerposts effizient und interpretierbar zu erforschen (ein sogenanntes „Glass box machine learning“-Verfahren).