Wahlsystemanreize und legislatives Verhalten
Während es umfangreiche Forschung über die Erfolgsfaktoren von Gesetzesinitiativen in parlamentarischen Systemen gibt, ist wenig über die Strategien von einzelnen Abgeordneten im legislativen Prozess bekannt, etwa über die Beweggründe einzelner Abgeordneter, Initiativen zu einem bestimmten Thema einzubringen. In der Literatur zum Wahlverhalten und der Literatur zum legislativen Verhalten gibt es eine deutliche Diskrepanz: Während Wahlverhalten mit einer Vielzahl von Faktoren erklärt wird, insbesondere mit Eigenschaften von Kandidaten, von Parteien und von Themen, wird beim legislativen Verhalten von Parteien und Abgeordneten zumeist davon ausgegangen, dass hier vor allem die Zugehörigkeit zu Regierungsmehrheit oder Oppositionsminderheit den Ausschlag gibt. Ziel des Projektes war, diese enge Sichtweise auf parlamentarisches Verhalten zu öffnen und insbesondere die differenzierten Anreize, die Wahlsysteme den einzelnen Akteuren bieten, für die Erklärung legislativen Verhaltens fruchtbar zu machen. In einem ersten Schritt wurde dazu untersucht, inwieweit sich bei namentlichen Abstimmungen in Parlamenten policy-bezogene Verhaltensweisen von ämterbezogenen oder taktischen Verhaltensanreizen trennen lassen. Wir entwickelten ein entsprechendes Modell des Abstimmungsverhaltens und untersuchten namentliche Abstimmungen in den deutschen Landesparlamenten zwischen 1988 und 2011 sowie im britischen House of Commons zwischen 2001 und 2015. Die Ergebnisse zeigten, dass taktische Anreize mitunter policy-bezogene Anreize dominieren können (Bräuninger/Stecker/Müller 2014). Zweitens untersuchten wir die Beziehung zwischen individuellem legislativen Verhalten und Wahlsystemanreizen. In einer früheren Studie hatten wir gezeigt, dass institutionelle Anreize für eine personenzentrierte Wiederwahlstrategie von Abgeordneten erkannt und genutzt werden (Bräuninger/Däubler/Brunner 2012). Ergänzend dazu untersuchten wir nun die tatsächlichen Auswirkungen solcher „personal vote“-Strategien. Am Beispiel des belgischen Parlaments können wir für den Zeitraum 2003-2007 zeigen, dass die Einbringung von Gesetzesvorschlägen – und insbesondere von solchen in Alleinautorenschaft – im Zeitraum vor einer Wahl die Wahrscheinlichkeit für eine „personal vote“-Stimmabgabe durch die Wähler erhöht (Däubler/Bräuninger/Brunner 2015). In einem dritten Schritt war zu untersuchen, wie Wahlsystemanreize parteien- oder personal-vote-orientierte Strategien von Abgeordneten beeinflussen, das heißt welche Effekte Wahlsystemanreize auf die Herausbildung von Kooperation unter den Abgeordneten haben. Dazu wurden Daten zu Kooperationsnetzwerken bei der Gesetzeseinbringung für Deutschland und Schweden erhoben. Die Datenerhebung ist hier abgeschlossen, die Auswertung und die Vorbereitung von Publikationsmanuskripten sind noch im Gange.