Sonja Haug
Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand

Arbeitsbereich II; 15
Mannheim
,
MZES
,
1997
ISSN: 0948-0080

Der Begriff "soziales Kapital" erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Verbreitung in sozialwissenschaftlichen Publikationen. In diesem Arbeitsbericht wird in Form eines Theorieüberblicks versucht, Aufschluß über die Notwendigkeit und Brauchbarkeit des Konzeptes "soziales Kapital" zu gewinnen. Es wird untersucht, wie der Begriff bei verschiedenen Autoren definiert wird, welche inhaltlichen Aspekte und Dimensionen des Begriffs zu berücksichtigen sind, wie der Begriff bisher in der empirischen Forschung angewendet und operationalisiert wurde und welche Probleme sich daraus ergeben, welche theoretischen und empirischen Defizite weiterhin bestehen und wie eine wissenschaftstheoretische Beurteilung der bisherigen Forschungen aussieht. Zum Ursprung und der Verbreitung des Begriffs läßt sich feststellen, daß der Begriff innerhalb unterschiedlicher Arbeitsbereiche mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt wurde, wobei sich mehrere Diskussionszusammenhänge und Verwendungsweisen identifizieren lassen. Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem Nutzen, den eine Person mit vielen und/oder aufwendig gepflegten sozialen Beziehungen selbst aus diesem "sozialen Kapital" hat, dem Nutzen, den Personen, die geringen Aufwand zur Aufrechterhaltung von Beziehungen betreiben, haben, indem sie über Dritte ("weak ties") Zugang zu nützlichen Ressourcen erhalten können, und dem Nutzen, den das gesamte Kollektiv aus dem Vorhandensein von bestimmten (kleinen geschlossenen oder großen weitläufigen) Beziehungsnetzen und dem damit verbundenen "sozialen Kapital" hat. Soziales Kapital wird in empirischen Studien sowohl als unabhängige als auch als abhängige Variable zur Erklärung der unterschiedlichsten Phänomene verwendet und es ist dabei keine einheitliche Operationalisierung feststellbar. Allgemein lassen sich bei der Verwendung des Begriffs des sozialen Kapitals zwei Analyseebenen unterscheiden: In verschiedenen individualistischen und netzwerktheoretischen Ansätzen wird soziales Kapital (analog zum Humankapital) als instrumentell einsetzbare, individuelle, aber nicht unabhängig von anderen Personen verfügbare, Ressource aufgefaßt. In der Debatte um politische Kultur dagegen wird das Gesamt-Sozialkapital oder Vertrauensniveau einer Gesellschaft als positiv bewertete Ressource der Gemeinschaft betrachtet, die zur Lösung von Kollektivgutproblemen beiträgt. Es stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, alle diese Varianten mit dem Begriff des sozialen Kapitals zu bezeichnen.