Andreas M. Wüst
Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten

Der Bürger im Staat, 2006: 56, Heft 4, S. 228-234
ISSN: 0007-3121

Die gesellschaftliche Integration von Einwanderern und ihren Nachkommen ist während der letzten drei Jahrzehnte zu einem zentralen Thema in nahezu allen etablierten Demokratien geworden. Deutschland gehört, aus verschiedenen Gründen, zu denjenigen Ländern, in denen man sich dem Integrationsthema erst in den letzten Jahren verstärkt angenommen hat. Mittlerweile hat man aber auch in Deutschland erkannt, dass Integrationsdefizite Folgekosten haben und das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft erhöhen. Darüber hinaus ist klar geworden, dass Einwanderer und ihre Nachkommen für eine Gesellschaft nicht nur problematisch, sondern auch überaus nützlich sein können. Zu Recht wird in der Integrationsdiskussion der Beseitigung struktureller Defizite von Einwandererminoritäten größte Aufmerksamkeit geschenkt, denn Sprache und Bildung sind die Schlüssel zu erfolgreicher Integration. Einige Soziologen sehen bereits in der strukturellen Angleichung ethnischer Minderheiten, vor allem Bildungsgrad und Berufsstatus, den Weg zu einer vollständigen Integration geebnet, denn andere Integrationsdefizite minimierten sich im Laufe der Zeit quasi von selbst. Anderen, vor allem Politikwissenschaftlern, erscheint diese Sicht zu optimistisch. Unbestreitbar steigen die Chancen vollständiger Integration durch die Beseitigung von Starthindernissen erheblich. Es ist dennoch schwer absehbar, wie lange es dauern wird, bis strukturelle Defizite von Einwandererminoritäten abgebaut sind. Ferner öffnen sich Machtbereiche von Gesellschaften nicht automatisch – eine Erfahrung, die insbesondere Frauen in etablierten Demokratien noch heute machen müssen. Und schließlich ist es mit einer Angleichung, d.h. Assimilation von Einwandererminoritäten an die Mehrheitsgesellschaft nicht getan, denn sowohl Mehrheit als auch Minderheiten werden sich punktuell akkulturieren müssen. Integration ist keine Einbahnstraße, sondern ein Prozess, an dessen Ende nicht nur eine angepasste Minderheit, sondern auch eine veränderte Gesamtgesellschaft steht. Die politische Integration von Migranten leistet deshalb einen nicht zu unterschätzenden Beitrag im Rahmen des Akkulturationsprozesses von Mehrheit und Minderheiten. Hierzu bedarf es jedoch der Wahrnehmung von Migranten als (potenzielle) Subjekte und nicht nur als Objekte von Politik. Dies geschieht zunächst mit Blick auf das Wählerpotenzial, das Migranten mit deutschem Pass bei Bundes- und Landtagswahlen und Migranten aus EU-Ländern auch ohne deutschen Pass bei Kommunal- und Europawahlen stellen. Personen mit Migrationshintergrund stimmen über die Zusammensetzung der Parlamente mit ab und sind somit – zumindest potenziell politisch relevant. Dies ist ein elementarer Aspekt politischer Integration, denn die gewählten Parteien und Abgeordneten sollten ihren Wählern gegenüber verantwortlich und responsiv sein. Das bedeutet im Kern, die Anliegen der Wähler (und damit auch der Migranten) programmatisch aufzugreifen, im parlamentarischen Prozess zu vertreten, aber auch weiter mit den Wählern zu kommunizieren und veränderte Problemlagen im parlamentarischen Handeln mit zu berücksichtigen. Dabei dürfte es nicht nur einen Unterschied machen, welche Partei sich der Probleme annimmt, sondern auch welche Personen. Abgeordnete mit Migrationshintergrund sollten in der Lage sein, die Belange von Migranten stärker im Blick zu behalten, eine ergänzende (Minderheiten-)Sicht in den politischen Prozess einzubringen, stärker in und mit ihrer eigenen ethnischen Gruppe zu kommunizieren und ihr gegenüber verantwortlicher zu sein. Deshalb sind, neben dem Wahlrecht, die parlamentarische Präsenz und die Mit-Entscheidung von Personen mit Migrationshintergrund wichtige Elemente der politischen Integration von Einwandererminoritäten.